Es bedarf keiner studierten Analysen, um auf eine weitere Trainingserkenntnis zu kommen: Für einen Extremhindernislauf sollten wir wohl ein paar Erfahrungen mit Hindernissen sammeln. Zur Vorbereitung wagen sich Outdoor Jim, Rocket Man und ich in die gefährlichen, bisher noch unerforschten Woodlands. Auf uns wartet ein riskanter Pfad: Holzwände ragen aus dem Boden, dünne Balken führen über tiefe Schluchten und wer nicht rechtzeitig am Seil hochkommt, wird vom Ziegenbock aufgespießt. Als wir uns den Fallen und Barrieren ehrfürchtig nähern, überkommt mich ein dunkles Gefühl: Jemand beobachtet uns.
Eigentlich hätte es mich nicht überraschen sollen und doch imponiert es mir sehr, als Outdoor Jim und Rocket Man die Hindernisse im Sturm überwinden. Wie Superhelden fliegen sie über die hölzernen Wände und Barrieren. Beeindruckend schön.
Jetzt bin ich an der Reihe. Ich schlucke. Mein Hals ist trocken. Vor mir eine Wand, größer als ich, bestimmt zwei Meter. Ich nehme Anlauf und renne darauf zu. In meinen Augenwinkel sehe ich noch, wie eine dunkle Gestalt hinter einem Baum hervorlugt und dann … stoße ich mit der Wand zusammen. Ein leichtes Stechen in meinem Knie und ein Haarriss in meinem Selbstvertrauen.
Was soll’s. Ich nehme erneut Anlauf. Dieses Mal schaffe ich es bestimmt. Ich renne und greife das obere Ende der Wand. Nun versuche ich mich hochzuziehen, doch es gelingt mir nicht. So hänge ich da wie ein nasser Sack. Als ich wieder runter springe, steht die dunkle Gestalt plötzlich neben mir.
Ein unheimliches Wesen. Er sieht aus wie ein gebeugter, alter Mann. Der ganze Körper ist in schwarze Lumpen gehüllt, sogar sein Gesicht ist fast komplett bedeckt. Nur die Augen sind zu sehen, wie bei einer Burka. Er schaut mich an, sagt aber nichts. Seine Haut sieht blass und faltig aus. Ich gehe vorsichtig rückwärts und schaue hilfesuchend zu Outdoor Jim und Rockt Man. Sie kommen auf mich zu und geben mir Tipps, wie ich die Mauer überwinden kann, doch zur schwarzen Gestalt sagen sie kein Wort.
Hmm. Es scheint so, als könne die schwarze Gestalt wieder einmal niemand außer mir sehen. Vielleicht ist das ja meine neue Superkraft: Unsichtbare Wesen sehen – oder aber der Anfang vom Irrsinn. Besser also, ich behalte das für mich. Und überhaupt sollte ich mich jetzt auf das Hindernis konzentrieren. Outdoor Jim hievt mich rüber. Gut, dass er Superkräfte hat.
Wir gehen weiter. Die schwarze Gestalt folgt uns. „Was willst du hier?“, flüstere ich dem Wesen zu, während meine männliche Begleitung das nächste Hindernis bezwingt. Es antwortet nicht, schaut mich nur an.
Ich darf mich nicht ablenken lassen. Das nächste Hindernis ist höher, etwa drei Meter. Dafür aber schräg in den Boden gerammt. Ich renne wieder darauf los. Versuche alles umzusetzen, was mir meine zwei Superheldenfreunde geraten haben: Das rechte Bein nach oben werfen, dann mit der Kraft meiner Arme und meines Beins den Körper hochdrücken. Doch die Theorie lässt sich nicht in die Praxis umsetzen. Ich bekomme die Wand nur mit den Händen zu greifen, bin zu schwer, rutsche ab.
Noch einmal: Wieder laufe ich auf die Wand zu. „So wird das nie was …“, höre ich die schwarze Gestalt murmeln, pralle gegen die Holzwand und taumele zurück. Autsch. Das hat wehgetan. Ich greife nach meinem pochenden Schienbein. Noch einmal hilft mir Outdoor Jim, die Wand zu überwinden. Obwohl ich sogar auf seinen Schultern stehen darf, erreiche ich das obere Ende der Holzwand nur mit Hängen und Würgen. Oben angekommen, sehe ich das nächste Problem: Ich muss ja auch wieder runter.
„Ganz schön hoch hier!“ Ich erschrecke, als die schwarze Gestalt plötzlich neben mir sitzt. Die Lumpen um seinen Kopf sind gelockert, jetzt kann ich schon seine Nase sehen und habe den Eindruck, dass seine Haut an Farbe gewonnen hat. „Hau ab!“, fauche ich und steige vorsichtig vom Hindernis ab.
Ein neuer Holzriese türmt sich vor uns auf. Ein hölzerner Wall, der sich nur an einem Seil erklimmen lässt. „Dafür dürftest du zu schwach sein“, kommentiert das unheimliche Wesen. Der Blick auf sein Gesicht ist nun komplett frei. Er grinst breit und ich sehe seine dunklen Gammelzähne. „Und selbst wenn du es nach oben schaffst, dann wird dir bestimmt schwindelig“, fügt er noch hinzu.
Soweit kommt es leider nicht einmal. So sehr ich mich bemühe, meine Arme streiken. „Was bist du schrecklich schwach! Und wie albern das aussieht“, lacht der schwarze Dreckskerl.
Meine Muskeln sind inzwischen wie Wackelpudding, ich kann mich nicht mehr halten. Mir steigen sogar kurz Tränen in die Augen, als ich mir nicht traue, von einem hohen Podest in den Sand zu springen. Unten steht natürlich der schwarze Fiesling und umso mehr er redet, umso schwindeliger wird mir.
Verdammt! Ich hatte gedacht, wer den Schweinehund besiegt, kommt auch mit allem anderen klar, sogar mit komischen schwarzen Typen, die einem Angst machen wollen. Doch für heute habe ich wirklich genug. Diesen Kampf gewinne ich nicht.
Kaum habe ich diese sechs Worte gedacht, beginnt der schwarze Mann sich wie ein Derwisch im Kreis zu drehen. Sein dunkles Gewand flattert im Winde und er jubelt: „Du bist viel zu schwach, um mich zu besiegen!“
Das reicht! Zum Glück haben wir das Ende des Pfades erreicht und sind gerade dabei, die Woodlands zu verlassen.
„Vielleicht hast du heute gewonnen, aber ich komme wieder!“, zische ihn leise an. Er grinst nur und antwortet: „Das werden wir ja sehen!“
Vor uns liegt bereits die Waldlichtung, von wo aus wir nach Hause kommen. Wir haben das gefährliche Gebiet schon fast verlassen. „Verrate mir deinen Namen, damit ich weiß, wen ich das nächste Mal in den Hintern trete“, gifte ich ihn an.
„Ich bin der Mummelratz“, höre ich es durch die Bäume hallen. Dieser Name trifft mich wie ein Blitz. Verschreckt drehe ich mich um, doch der schwarze Mann ist bereits verschwunden.