(9) Das Vorbild

Noch zwei Monate bis zum Lauf. Nach meinem kurzen Ausfall habe ich wieder zu Kraft gefunden, doch es gibt noch viel zu tun: Ich muss die Angst vor Hindernissen verlieren, meine Wackelpudding-Arme müssen fester werden und ich muss lernen, meinen Hintern schnell und effizient durch die Landschaft zu katapultieren. Ich quäle mich und habe regelmäßige Begegnungen mit dem Schweinehund. Da der Muskelkater ein steter Begleiter geworden war, fing er an, mich zu trainieren.

Samstagtraining im Wald. Während ich gerade Liegestütze oder – in meinem Fall – besser gesagt „Krüppelstütze“ trainiere, schwadroniert der Muskelkater: „Weißt du, vielleicht würde es dein Training intensivieren, wenn du dir ein Superhelden-Vorbild suchst.“ Er korrigiert meine Haltung. Schon wieder hing mein Bauch durch. Kein Wunder, die mächtige Masse zog nach unten.

„Ein Vorbild …“, keuche ich. Und im Unterton schwingen die Wort „Was denn noch alles?!“ mit.

„Nehmen wir mal Sigmund Freund: Er sah die Identifizierung mit einem Vorbild als einen psychodynamischen Prozess, der eine Angleichung des eigenen Ich zu dem zum Vorbild genommenen Ich zum Ziel hat.“

Ein „What-the-hell“ drängt durch meine zusammengebissenen Zähne. Ich will aufstehen, doch der Muskelkater drückt seine Tatze auf meine Schulter. „Da gehen noch fünf“, schnurrt er und führt weiter aus: „Wenn du dir also ein Super-Helden-Vorbild suchst, schaffst du eine Bezugsperson und kannst die Verhaltensweisen von dieser übernehmen. Das führt zu einer positiven Auswirkung auf deine Selbstwirksamkeitsüberzeugung. Untersuchungen zeigen, dass Personen mit einem starken Glauben an die eigene Kompetenz größere Ausdauer bei der Bewältigung von Aufgaben, eine niedrigere Anfälligkeit für Angststörungen und Depressionen und mehr Erfolge bei ihren Herausforderungen aufweisen.“

Fünf. Geschafft. Ich lasse mich zu Boden fallen und liege mitten im Dreck. „Du weißt, dass ich kein Wort davon verstanden habe. Aber damit du aufhörst, so viel zu reden, wähle ich Superman zu meinem Vorbild.“

„Ja, das dachte ich mir. Aber mal im Ernst: Das ist doch abgedroschen. Ein Alien mit Laser-Blick? Wie willst du das denn trainieren?!“, fragt mich der Muskelkater.

„Dann bin ich eben The Flash. Schnell sein muss ich ja beim Lauf“, entgegne ich.

„So schnell wie ein Blitz?! Schätzelein, ich bin gut, aber jeder Trainer ist nur so gut, wie die Menschen, die er trainiert. In deinem Fall sollten wir die Ansprüche was runterschrauben.“

„Dann der unglaubliche Hulk – da kann ich dicke, fette Kater mit der bloßen Hand zerquetschen“, fauche ich meinen Begleiter an.

„Denk doch mal ein bisschen ökonomisch. Die Hulk-Nummer ist recht kostspielig. Ständig reißt du dir die Klamotten vom Leib. Das kann auf Dauer ganz schön ätzend sein“, sagt der Muskelkater und deutet mir mit einem Kopfnicken an, wieder aufzustehen. „Nein, ich habe einen anderen Superhelden im Sinn: Was hältst du von Spider-Man?“

„Ich hasse Spinnen“, antworte ich knapp und rappele mich auf.

„Wir können den Biss ja überspringen. Aber einige Trainingselemente lassen sich sehr schön übernehmen. Punkt eins: Das Krabbeln – Na los! Ab in die Liegestütz-Haltung und dann krabbelst du, ohne die Knie abzusetzen, bis dort hinten zur Bank“, kommandiert er mich.

„Das war ja mal wieder eine sehr demokratische Entscheidung …“, murmele ich und gehe nach unten. Das Kriechen über den Boden ist verdammt anstrengend. Wann zwischen dem Kindsein, wo das doch eigentlich die einzige Art des Fortbewegens ist, und dem Erwachsenwerden verlernt man das eigentlich? Die wenigen Muskeln meiner Wackelpudding-Arme zittern und meine Knie schrammen knapp über den Boden. Ich setze ab, noch bevor ich die Bank erreicht habe.

„Wenn du nicht sofort weiterkrabbelst, setze ich mich auf deinen Rücken“, schnauzt der Kater. Keine leere Drohung, wie ich weiß. Ich habe ihn schon ein paar Mal auf meinem durch die Landschaft getragen. Manchmal ist er mächtig lauffaul. Ich gehe also wieder in Position und wackele zu Bank. Als ich dort bin, krache ich zusammen. Was ist das anstrengend, ein Superheld zu werden.

„Na, das lassen wir mal durchgehen …“, kommentiert der Kater meine Leistung und schaut sich um. „Zweite Aufgabe: Klettern. Siehst du den Baum dahinten. Da musst du hoch. Zack, zack.“

„Der hält mich nie!“, protestiere ich.

„Doch, doch, der müsste dich halten“, beteuert der Kater.

„Ich hasse den Konjunktiv“, murmele ich, bin aber zu müde, um weiter zu protestieren. Ich stehe vor dem Baum. Mächtig hoch. Und dann passiert, was passieren musste: Slapstick.

Während sich Spider-Man sicherlich sekundenschnell von Ast zu Ast in die Wipfeln des Baumes hoch geschwungen hätte, ging ich es langsamer an. Ich robbte am Stamm hoch zum ersten Ast, bekam nur mit Mühe ein Bein darüber geschlagen und saß auf dem Ast, wie auf einem Pferd. Als ich meine Arme nach oben zum nächsten Ast streckte, kippte mein Körper und ich machte eine Hundertachtzig-Grad-Drehung, so dass ich schließlich wie eine Fledermaus verkehrt herum am Ast hing. Der Muskelkater warf sich kreischend ins Gras und hielt sich den Bauch vor Lachen.

Es dauert eine Ewigkeit, bis ich mich wieder aus meinen eigenen Verwirrungen entkettet habe und auf dem Waldboden stehe. Meine Muskeln zittern. Ich habe genug für heute, so dass ich nur noch maule: „Aus großer Macht folgt große Verantwortung – Und die habe ich auch für meinen Körper. Und bevor ich dich noch über Kopf hängend küssen muss, beende ich das Training für heute.“ Ein paar Flüche in die Luft stoßend mache ich mich auf den Heimweg. Der Muskelkater folgt mir, immer noch grölend und amüsiert.

Was soll’s. Ein echter Superheld werde ich wohl an einem anderen Tag.

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