Nachricht aus Nizza

»C’est vraiment grave!«, betonte Monsieur Misery. Es ist wirklich schlimm!, übersetzte mein Gehirn etwas zeitversetzt. Ich hielt inne, horchte in mich hinein, erwartete eine Flut an Emotionen, ein Schluchzen, vielleicht ein verzerrtes »Oh mon dieu!«, doch mein Körper entschied sich für ein einfaches Nicken. Das war natürlich die dümmste Reaktion, weil ich hier in Deutschland saß und mit dem Krankenhaus in Nizza telefonierte. So war es nicht verwunderlich, dass sich Monsieur Misery noch einmal erkundigte: »Haben Sie alles verstanden?« Ich fasste die Fakten auf Französisch zusammen, nur um sicherzugehen: »Mein Bruder ist aus einer Höhe von 4 Metern auf den Kopf gefallen. Jetzt hat er ein schweres Schädel-Hirn-Trauma.« Nun klang es, als würde er nicken. »Wir sehen uns morgen, 12 Uhr im Krankenhaus«, antwortete er und wir verabschieden uns.

WHAT. THE. FUCK. Sollte es wahr sein, dass meine schlimmste Angst Wirklichkeit geworden war? Mein freiheitsliebender Bruder, der immer von einer Wolke zur anderen tollte, ein Leben fernab unserer Konventionen führte, hatte die tiefe Grube nicht gesehen und war knallhart auf den Boden der Tatsachen gelandet. Eine Welle der Sehnsucht überrollte mich, als ich an ihn dachte, füllte mich bis in die Fingerspitzen aus. Sekundenspäter folgte ihr ein unfassbarer Schmerz, der mir tief ins Mark schoss und mich lähmte. Er setzte sich auf meine Lunge und raubte mir den Atem. Dieses grausame Gefühl verbreitete sich in meinem ganzen Körper aus, drängte sich in meinen Kopf und setzte nun an, meinen Verstand zu vergiften. Doch der lies es nicht so weit kommen und wies den ganzen Körper an: »Wir drehen jetzt nicht durch!« Ich folgte seinen Worten, zwang Luft in meine Lungen, ballte die Hand zur Faust, dann griff ich zum Telefon und klappte den Laptop auf. Er hatte recht, es gab viel zu tun.

Kurz nach vier Uhr nachmittags hatte ich das Telefonat mit dem Krankenhaus beendet. Nur 20 Stunden, bis ich mehr erfahren sollte. Das war nicht einmal ein ganzer Tag und doch fühlte es sich an wie ein halbes Leben. Ich stürzte mich in die Arbeit: Sprach mit meinen Eltern, buchte Flug und Übernachtung, packte das Nötigste in einen Koffer, ging zum Sport und duschte anschließend heiß. Um zehn war alles erledigt und ich legte mich ins Bett. Um elf machte ich den Fernseher an, weil ich keine Ruhe fand, gegen Mitternacht weinte ich ein wenig, um eins verfluchte ich die Welt und den beschissenen Schicksalsgott, um zwei flehte ich ihn an, mich wenigsten schlafen zu lassen, um halb 4 klingelte der Wecker und ich machte mich auf den Weg.

Die Reise verwischte zu einem verzerrten Tagtraum: Rollende Koffer, piepende Zugtüren, das dreckige Fenster an meiner Schläfe, die kalte Luft am Bahnhof, mit den Lemmingen zusammen auf der Rolltreppe, meine Eltern am Kaffeestand, Tickets abscannen, Körper abscannen, noch einen Kaffee trinken, Sitzplatz suchen, warten, neuen Sitzplatz suchen, warten, ins Flugzeug steigen, warten, über den Wolken dösen, warten, Koffer holen, warten und schließlich den Bus nach Nizza nehmen.

Die Stadt an der Cote d’Azur empfängt uns bei freundlichstem Frühlingswetter, obwohl es Ende November ist. Ich bin höchst beleidigt. Selten kommt mir ein strahlend blauer Himmel so verlogen vor, noch nie hatte ein rauschendes Meer so falsch auf mich gewirkt. Die Promenade zieht sich wie eine kilometerlange Werbefläche an uns vorbei. »Nizza – hier geht’s allen so dermaßen gut, uns scheint die Sonne aus dem Arsch«, hätte als Claim darauf zu lesen sein können. Ich wende den Blick ab, starre auf den sauberen Boden des Busses.

Im Zentrum angekommen suchen wir den Weg zum Hotel. Google leite uns, aber kann uns nicht beschützen. Wir kommen an einer Kirche vorbei. Die Glocken klingen. Eine Menschentraube in Schwarz wartet auf den Treppenstufen. Gerade als wir vorbeigehen, tragen sie den Sarg hinunter. Ein Leichenwagen empfängt ihn. Kinder weinen, Erwachsene ringen nach Fassung. Was für einen schlechten Humor dieser Schicksalsgott hat. Ihm muss sehr langweilig sein.

Halb elf haben wir die Koffer im Hotel abgegeben, wieder einmal ist alles erledigt, doch es ist noch zu früh, zum Krankenhaus zu fahren. Wir gehen in ein Café, keiner hat Hunger oder Durst, aber einen französischen Kaffee bekommen wir herunter. Keiner weiß, was er sagen soll. Keiner weiß, wie man betet. Aber die Preise fürs Bier sind doch ganz moderat. Und das Sandwich am Nachbartisch sieht auch gut aus. Genug. Wir beschließen, die Straßenbahn zum Krankenhaus zu nehmen. Wieder piepende Türen, elektronische Stimmen kündigen den nächsten Stopp an. Dann endlich erreichen wir das Krankenhaus, ein Riesenkomplex mit Metalldetektoren an den Eingangstüren. Wir fragen uns durch, von Station zu Station. Die Gespräche muss ich führen, jede Nachfrage ist meine Aufgabe, denn alles ist auf Französisch. Meine Eltern verstecken sich hinter mir, als wäre ich ihr Schutzschild. »Reanimation« steht auf dem Schild an der Tür, an der wir klopfen. Da braucht es nicht viel Französisch, um zu verstehen, wie ernst es war. Sie bitten uns, zu warten, bis der Arzt Zeit hat.

Der Wartebereich ist leer, denn eigentlich ist heute keine Sprechstunde. Das hat Monsieur Misery gestern am Telefon gesagt, ich kann es auch auf den Aushängen lesen. Ein Zugeständnis an uns, weil wir aus Deutschland kommen. »Und vielleicht weil es so schlimm ist …«, flüstert mein Herz so leise, dass ich es kaum hören kann. Wir sitzen halb im Gang, hören das Quietschen der Plastiklatschen Vorbeilaufender, das Flüstern der Schwestern, das Klingeln eines Telefons. Jetzt fallen uns nicht mal mehr Floskeln ein, die wir sagen können. Stattdessen üben wir uns im Schweigen, obwohl es viel zu sagen gebe. Sieben Jahre lang haben sie mit ihren Sohn nicht mehr gesprochen und ich habe eine ebenso lange Zeit damit verbracht, sie auf Abstand zu halten. Mit einem Schlag sitzen wir alle wieder zusammen. Aber jetzt ist nicht der Zeitpunkt, das alles auszudiskutieren. Sicherlich beschleicht sie gerade die Angst, dass sie ihn verpasst haben.

Die Zeit kriecht. Vielleicht steht die Uhr still, weil sie ebenfalls unter Schock steht. Es ist drei Minuten nach zwölf, wie gefühlt auch schon vor einer halben Stunde. In mir tobt ein Streit zwischen meinem Herz und meinem Verstand: »Am Abend des Unfalls warst du bei Freunden und ihr habt Rätselfälle gelöst«, stellte mein Herz fest. Es konnte sehr vorwurfsvoll sein. »Na und?«, ging mein Verstand dazwischen, »Wie hätte sie es denn verhindern können, dass er stürzt? Hinstellen und auffangen?«

Berechtigte Frage, denke ich mir und stehe auf. Dabei spüre ich die Blicke meiner Eltern. Wahrscheinlich hoffen sie, ich werde etwas tun, wenigstens etwas sagen. Aber ich gehe nur ein paar Schritte und lasse mich in einen anderen Wartestuhl fallen. Hier kann ich die Uhr besser sehen. 12:04 Uhr. Die Zeit ist also nicht stehen geblieben.
Es tut mir unfassbar leid. Alles. Dass ich ihn nicht öfter angerufen haben, dass ich nicht da war, als er mich brauchte, dass ich so früh von zu Hause ausgezogen bin, dass ich hier so untätig rumsaß. Ich denke an das Foto in meiner Tasche. Er und ich zusammen an Weihnachten. Ich mag das Bild nicht sonderlich, weil wir beide in zwei unterschiedliche Richtungen schauen. Es sieht so aus, als würde wir gerade in unserer eigenen Welt sein, unsere eigenen Gedanken machen. Wer weiß, vielleicht war es auch so. Das beschreibt unser Leben doch ganz gut. Jeder war seinen eigenen Weg gegangen. »Ihr seid beide Erwachsen!«, mahnt mich mein Verstand. »So ist der Lauf der Dinge.« Da hatte er natürlich recht – wie sooft. Aber ich habe einfach immer gehofft, dass mein Bruder ein Weg gewählt hatte, der ihn glücklich machte. Und jetzt war ich mir nicht sicher, ob das der Fall war, und konnte vielleicht nicht mehr nachfragen.

Eine weitere Minute ist vorüber. Ich strecke die Beine aus, lehne mich zurück. Krankenschwestern gehen in die Mittagspause. »Ob er wohl weiß, wie abgöttisch wir ihn lieben?«, fragt mein Herz leise. »Natürlich«, antwortet mein Verstand prompt. Und wir wiedersprechen ihm nicht. Zwar hat er keine große Ahnung von Gefühlssachen, doch der Gedanke tröstet uns.

Ein Pfleger schlurft an uns vorbei. Ich ziehe die Beine wieder ran, schlinge meine Arme um mich, umarme mich selbst. Die Distanz zu meinen Eltern wird immer größer. So viel Ungesagtes liegt zwischen uns, wie ein Haufen Müll, und trennt uns selbst in einen solchen Moment. Ich lege meinen Kopf in die Hände und wühle durch meine Haare. Die Tür zur Treppe quietscht auf. Ich schaue nicht mehr hoch, das macht mich bekloppt.
Die Zeit verschmilzt ein erneutes Mal: Schritte, Flüstern, Telefon, quietschende Tür und dann Rufe. Ich höre, wie jemanden einen Namen ruft. Ich erkenne erst gar nicht, dass er uns meint, die französische Aussprache hat den Namen unkenntlich gemacht. Doch der Mann geht auf uns zu und reicht mir die Hand. Monsieur Miserey stellt sich vor und bittet uns ins Angehörigenzimmer.

Wir sitzen einer jungen Ärztin gegenüber, daneben Monsieur Misery, der ebenfalls Dinge erklärt. Sie sind so behutsam, dass es mir angst macht. Sie erklären, dass mein Bruder in die Notaufnahme eingeliefert wurde, dass er Blutungen im Hirn hattesein Hirn blutete, dass sie ihm den Schädel geöffnet haben. Dann kommt es zur Prognose. Erst sagt es die Ärztin auf Französisch: »Il est en coma. C’est possible, qui va deceder.«, dann wiederhole ich es auf Deutsch: »Er liegt im Koma.« Der zweite Satz kostet mehr Kraft: »Es kann sein, dass er stirbt.« Meine Stimme bricht, das ist zu viel. Es selbst laut zu sagen, macht es realer, so als wäre es schon passiert. Ich kämpfe mit den Tränen, bitte trotzdem die Ärztin weiter zu reden. »Vielleicht wacht er auf«, übersetze ich dann weiter. »Aber wenn er aufwacht, weiß man nicht, was er dann noch kann. Alles wird sich …« Ich hole Luft. »Alles wird sich in den nächsten drei Wochen zeigen.« Drei Wochen, wiederholt mein Verstand. Wie schrecklich, weint mein Herz. Ich versichere mich, dass ich alles richtig verstanden habe und fasse es dann für meine Eltern zusammen: »Das Einzige, was wir jetzt tun noch können, ist warten.«