Die Schatten der Vergangenheit

Ich redete mir immer ein, dass ich sie im Griff hatte. Oder besser noch: Dass ich sie in einer Vollmondnacht in einem moderigen Garten mit verwachsenen Bäumen hinter einer alten, baufälligen Villa vergraben hatte. Ich spürte förmlich wie meine Hände den Holzstiel des Spatens umklammerten und ich mein ganzes Gewicht dagegen stemmte, um ihn noch tiefer in den Boden zu bohren. Und dann – mir steht der Schweiß längst auf der Stirn – ließ ich die Kiste mit einem beeindruckenden Sicherheitsschloss, in das dunkele Loch fallen. Ich atmete erleichtert durch und schüttete die Erde wieder zurück. Schicht für Schicht klopfte ich sie platt und um ganz sicher zu gehen, hüpfte ich zum Schluss über die aufgeschüttete Erde. Nie wieder sollten die Schatten der Vergangenheit das Tageslicht sehen. Mein Bannspruch lautete: Ewiges Vergessen.

Ich atmete tief durch und rannte los. Meine Beine bewegten sich so schnell als wäre ein Schlägertrupp hinter mir her oder eine Herde hungriger Wölfe. Ich schwang mich über die hohe Mauer und ließ die alte Villa hinter mir, ohne auch nur einmal zurück zu schauen. Erst als eine kilometerweite Ewigkeit hinter mir lag und die Erinnerung an die Grabstelle verschwunden war, hielt ich an, atmete durch und lief wieder langsam. Ich war überzeugt: Die Schatten meiner Vergangenheit würde ich nie wieder treffen.

Und dann, eines Tages, war es ein Telefonat, ein Ort, den ich besuchte, ein Mensch, dem ich die Hand schüttelte oder ein Lied, das ich im Radio hörte und ein mulmiges Gefühl breitet sich in meinem Magen aus. Die Schatte. Sie krochen aus ihrem Versteck. Sie waren sehr leise und im Tageslicht nicht zu erkennen, doch ich spürte wie sie mich verfolgten und den Lärm des Tages abwarteten. Sie warteten geduldig, dass ich zur Ruhe kam. Denn sie wusste, dann waren sie am Stärksten.

Erst als ich geschafft in meinem Bett lag, wagten sie sich aus ihrem Versteck. Sie krochen heran, walzten ihre unförmigen Körper über den Boden bis an mein Bett. Blitzartig warfen sich auf mich und drückten mich tief in die Matratze. Ich bekam keine Luft mehr unter ihrer Last und spürte, wie sie sich in meine Gedanken drängten, in meine Träume, in mein Herz. Ich rang nach Luft, aber da war kein Platz mehr in meinen Lungen.

Mit aller Kraft kämpfte ich gegen sie an und schreckte mit einem erstickten Schrei auf. Nun saß ich in meinem Bett und hielt kurz inne. Ich war allein, eingehüllt in Stille. Nur mein Herz hämmerte. Luft drang in meine Lungen. Ich schob mich aus dem Bett und verließ das Schlafzimmer. Der Nebel meines Traumes zog durch meinen Kopf. Ich machte in jedem Raum Licht an und holte mir ein Glas Wasser aus der Küche. Erschöpft setzte ich mich an den Tisch. Alles ist gut, sagte ich mir, ich muss mich vor nichts fürchten.

Und dann hörte ich sie wieder. Die Schatten. Sie krochen erneut heran, schürften über den Teppichboden und ächzten dabei leise. Sie suchten mich. Und folgten der Spur aus Angst und dem lauten Pochen meines Herzens. Panisch flüchtete ich ins Nebenzimmer an meinen Schreibtisch. Ich machte die kleine Lampe an, denn ich wusste, dass sie das Licht mieden. Dann kramte ich in den vielen Papieren, die über meinen Tisch verteilt waren. Rechnungen, Briefe, Einkaufslisten – all das sollte schon lange einmal sortiert werden. Ich begutachte sie, legte sie ab und machte mir Notizen. Schob Papier von links nach rechts, um es dann wieder in die Hand zu nehmen. Ich konnte die Schatten nicht mehr hören, doch ich wusste, ich war nicht alleine. Die Schatten hatten es sich längst bequem gemacht. Sie lungerten in den dunklen Ecken um meinen Schreibtisch und beobachteten mich. Sie waren nicht in Eile, denn sie wussten, egal wie sehr ich mich anstrenge, irgendwann würde ich müde werden. Und dann würden sie mich doch bekommen.