Mein geliebtes, ungeborenes Kind, …

… es ist schon längst überfällig, dir diese Zeilen zu schreiben. Mein ganzes Leben hat sich bereits nach dir ausgerichtet. All meine Gedanken sind unentwegt bei dir. Und doch haben wir uns noch nie einander vorgestellt.

Am besten fange ich vorne an: Ich bin’s, deine Mama. Ich kann gut Geschichten erzählen, bastele gerne Monster und liebe Musik. Im Grunde lache ich oft, vor allem laut. Nur wenn ich zu wenig geschlafen habe oder mächtig hungrig bin, werde ich extrem übellaunig.

Ich wohne in einer Kleinstadt in einem Haus mit verwachsenen Garten. Hier ist genug Platz zum Leben und wir haben sogar ein Kinderzimmer. Dein Zimmer. Jedenfalls soll es einmal dein Zimmer werden. Momentan schlafen unsere Gäste in dem Raum, wir trocknen da die Wäsche und ich lagere meine Bastelsachen dort. Es ist noch nicht für dich eingerichtet, aber mir juckt es bereits in den Fingern, endlich alles für dich schön machen zu dürfen.

Klingt ganz interessant, könntest du jetzt denken. Aber wäre dir diese unbekannte Frau eine gute Mutter? Nun, das ist eine Frage, die mir ebenfalls oft durch den Kopf schießt. Also, im Vertrauen gesprochen, das mit der Ordnung beherrsche ich mit Mitte 30 etwa so wie zu Teenagerzeiten: So pflastern eben immer noch Klamottenberge meinen Schlafzimmerboden. Und die Vernunft ist über die Jahre auch nicht mein bester Freund geworden. Deswegen laufe ich gerne baarfuß, selbst wenn ich eine Erkältung riskiere. Gröle bei Partys so laut, dass ich am nächsten Tag heiser bin. Und esse hin und wieder das Eis so schnell, dass ich fiese Kopfschmerzen bekomme. Aber glaub mir, die wirst du auch noch kennenlernen.

Du hast ja recht, wenn du jetzt denkst: So richtig klingt das nicht nach einem Vorbild. Doch dann frage ich einfach einmal zurück: Was macht eigentlich ein Vorbild aus? Gute Schulnoten hatte ich auch – zumindest ein paar – und wenn ein Freund mich braucht, bin ich zur Stelle. Ich kann mich bei Tisch anständig benehmen und gehe seit ich achtzehn bin zu jeder Wahl. Sicherlich mein Leben strotzt nicht vor Vollkommenheit. Ich habe weder Super-Kräfte noch ahme ich Mutter Theresa nach. Doch es ist gut in seiner Einfachheit. Ob das für dich reicht, kann ich dir nicht beantworten. Mein Vorschlag: Mach dir am besten ein eigenes Bild und lerne mich einfach besser kennen.

In jedem Fall weiß ich, dass wir viel Freude miteinander hätten. Ein freudiges Leben – Das klingt beim ersten Hören so banal. Doch ich glaube, dass wir den Weg zum Glück finden, wenn wir vor allem Heiterkeit und Zufriedenheit leben. Klar, der Alltag wird es uns nicht immer leicht machen. So müsste ich gleichwohl streng sein, wenn du hier wohnen würdest: Zubettgehzeiten, Fernsehverbot, Süßigkeitenregeln – das ganze Ballett. Jedoch würde ich mich anstrengen, nie unfair zu werden – soweit das eben geht.

Von deinem Vater kannst du einiges lernen, da bin ich überzeugt. Auf den ersten Blick wirkt er etwas unbeholfen, wenn er mit Kindern zu tun hat. Allerdings wuchs er bisher immer an seinen Aufgaben – und überraschte so manchen. Er hat ein großes Herz, ist unglaublich fantasievoll und findet für jedes Problem eine Lösung. Der perfekte Papa.

Gut, auch bei ihm will ich nicht über das Ziel hinausschießen. Schaue ich nach links und rechts, wird mir klar, dass es die perfekten Eltern gar nicht gibt. Jedenfalls kenne ich keine. Wenn ich von »perfekt« rede, meine ich vielmehr, dass wir unser Bestes geben werden.

@Pixabay/ jarmoluk

Von Anfang an versuchen wir, alles zu tun, damit du die Welt erobern kannst. Zu Beginn sind wir stolz wie Bolle mit jedem Meter, den du wächst. Das erste Wort, der erste Zahn, der erste Schritt – All das halten wir mit tausenden von Fotos fest. Wir zeigen sie jedem, der sie sehen will – und natürlich auch denen, die sie nicht sehen wollen.

Bist du erst in der Pubertät, kommen wir dir albern und peinlich vor – das lässt sich wohl kaum vermeiden. Egal. Lass uns das Beste aus dieser Zeit machen. Und irgendwann sind wir heimlich traurig, wenn du uns verlässt, weil du auf eigenen Beinen stehen willst. Keine Sorge, wir melden uns von da an regelmäßig mit nervigen Anrufen per Handy und Skype – oder mithilfe jeder anderen abgefahrenen Technik, die uns dann eben zur Verfügung steht.

Ich verspreche dir hier und heute: Egal, was es in unserem Leben für Herausforderungen gibt, wir bezwingen sie gemeinsam. Wir werden immer Zeit füreinander finden und lassen niemanden zurück. Sicherlich gehen wir uns hin und wieder auf die Nerven. Doch nachdem wir uns gestritten haben, umarmen wir uns ganz fest.

Da stehe ich also mit meinen leidenschaftlichen Versprechen und fühle mich ganz schön nackt. Denn das ist nicht mehr, aber auch nicht weniger, als das, was wir dir bieten können. Ich verstehe, dass du es dir gut überlegen willst, ob du zu uns kommst. Eine folgenreiche Entscheidung. Doch ich gebe zu, dass mir das Warten unglaublich schwerfällt.

Mein Schicksal hat mir eine harte Lektion erteilt. So musste ich verstehen lernen, dass ich keinen Anspruch auf dich habe. Auf einem langen Weg voller Enttäuschungen und bitterem Warten sagte mir eine Vertraute: »Nicht Sie suchen sich ihr Kind aus, es ist andersherum.« Seitdem lässt mich die Frage nicht mehr los, was ich tun muss, um deine Aufmerksamkeit zu erregen.

Ich will dich nicht zu sehr belasten, dir aber deutlich machen, wie viel du uns schon jetzt bedeutest. Monat für Monat ist es ein zehrendes Bangen und angstvolles Hoffen. Ist es soweit? Dürfen wir dich endlich kennenlernen? Anfangs dachte ich, wenn es nicht klappte: Es ist eben noch nicht der richtige Augenblick. Inzwischen schleicht sich jedoch die Angst in mein Herz. Sie krächzt die gemeine Frage: Was ist, wenn es nie einen richtigen Augenblick geben wird?

Stell es dir so vor: Ich bin mitten zwischen fröhlichen Menschen und um mich herum tobt das Leben. Eigentlich fühle ich mich gut, bis ein Kinderlachen mir das Herz bricht. Es hätte ja auch dein Lachen sein können. Dann rollen leise Tränen über meine Wangen und ich frage mich, wo du wohl bleibst und was ich getan habe, dass du dich nicht für mich entscheidest. In mir brennt das Gefühl, dass ich etwas falsch mache oder nicht gut genug für dich bin. Auch dein Vater trägt dieses Gefühl von Schuld in seinem Herzen verborgen. Egal, was uns der Verstand sagt, wir können uns nicht davon befreien. In diesen Momenten wird uns klar: Wir brauchen dich viel mehr, als du uns brauchst.

Die Leute sagen mir immer, ich solle aufpassen, dass meine Angst mich nicht lähmt. Ich solle auf andere Gedanken kommen, nur dann würde es funktionieren. Aber wie könnte ich an etwas anderes denken als an dich? Die grauen Haare, die sich auf meinem Kopf vermehren, erinnern mich bei jedem Blick in den Spiegel, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt. Und ich frage mich, was ich machen werde, wenn sich das Zeitfenster geschlossen hat. All diese offenen Fragen sitzen wie Stacheln in unseren Herzen: Was ist, wenn du dich nie für uns entscheidest? Was machen dein Vater und ich, wenn es nie klappt? Einfach so weiterleben, als hätten wir nie gewünscht, dich zu bekommen? Soll ich mich um andere Kinder kümmern? Oder nur noch um mich und deinen Vater?

Du hast es sicherlich schon gemerkt, Geduld gehört nicht zu meinen Stärken. Vielleicht wirst du es eines Tages begreifen, wenn sich am 24. Dezember der Weihnachtsmann verspätet oder du dich nach der Antwort eines Liebesbriefes sehnst: Warten kann so schrecklich sein! Du wirst das vor allem dann verstehen, wenn du unsere Leben kennengelernt hast. Denn in der heutigen Zeit können wir auf diesem Teil der Welt – rein theoretisch – jederzeit alles bekommen. Egal ob ein Buch, Musik oder Lebensmittel, im Zweifel muss ich keinen Tag mehr darauf warten. Nur die Internetseite, wo ich mein Wunschkind bestellen kann, die gibt es eben noch nicht.

Und dieser Vergleich geht ja über den reinen Konsum hinaus. Habe ich doch bereits im Leben gelernt: Wenn du etwas erreichen willst, dann streng dich an und es wird dir gelingen! Heute kann ich stolz behaupten: So gelang mir ein Studienabschluss ohne finanzielle Unterstützung, ich verlor 30 Kilos ohne Personal Coach und bekam spannende Jobs, obwohl ich nur eine brotlose Kunst studiert hatte. Nein, ich habe keine Angst vor Herausforderungen. Kommt nur her, ich werde mich euch stellen! Es würde nur einfacher sein, wüsste ich, wer oder was in diesem Fall mein Gegner ist.

Ich bin davon überzeugt, dass man immer die Wahl hat. Wir alle müssen unser Schicksal in die Hand nehmen, denn es ist wichtig, für das einzutreten, an das man glaubt. UND ICH GLAUBE AN DICH! Deswegen werde ich mich nicht auf mein Glück verlassen. Die Frage ist also: Was tun? Adoptieren? Künstliche Befruchtung? Oder doch besser ein Pflegekind? Wo geht der Weg lang? Was ist richtig und was ist falsch? Wie werden wir alle drei glücklich?

Beim Blick auf diese unangenehmen Fragen überfällt mich manches Mal eine Starre. Es ist, als hätte ich mich in einem Labyrinth der Traurigkeit verlaufen. All die Stärke, die mich sonst ausmacht, all meine Leidenschaft und Energie wird von meinen Sorgen aufgefressen und verschwindet aus meinem Körper.

Ich weiß, das ist schwere Kost für ein noch ungeborenes Kind. Ich wollte auch gar nicht meinen Frust bei dir ablassen, nur ganz ehrlich zu dir sein. Das bin ich nicht oft. Denn mit anderen kann ich schlecht über diese Situation reden. Auch das wirst du im Leben noch erfahren: Menschen verstehen einander besser, wenn sie bereits etwas ähnliches erlebt haben. Ansonsten fällt es ihnen oftmals schwer, die Position des anderen zu begreifen.

An schlechten Tagen teilt sich meine Welt sogar in die und uns. Es ist wie in einem klassischen Albtraum: Ich muss dringend ein Schiff erreichen und renne, stürme, dränge mit aller Kraft zum Hafen. Von der Ferne sehe ich bereits Menschenmassen über eine Holzbrücke auf das Schiff steigen. Das Tuten des Dampfers signalisiert, dass er bald abfahren wird. Meine Muskeln schmerzen, der Weg wird immer beschwerlicher. Ich stolpere. Der Sand unter meinen Füßen drängt zu allen Seiten weg, sodass ich darin zu versinken drohe. Zwar rette ich mich aus dieser Todesfalle, doch in der Zwischenzeit setzt sich das Schiff in Bewegung.

Während ich im Sand liege, sehe ich die anderen an der Reling stehen: Väter, die den Arm um ihre Söhne legen und Mütter, die sich an ihre Töchter schmiegen. Dein Vater kommt und reicht mir die Hand. Er zieht mich aus dem Sand und wir blicken stumm dem Schiff hinterher. Mitgekommen sind all diejenigen, die das Glück haben, eine Familie gründen zu dürfen. Viele von ihnen wertschätzen dies Glück nur oberflächlich, denke ich mir. Es war bei ihnen einfach nur an der Zeit. Dein Vater und ich stehen auf der anderen, der falschen Seite. Und es fühlt sich endgültig an, so als hätte das Schicksal unseren weiteren Weg besiegelt.

Was ich von meiner Position aus nicht sehen kann – und was mich zu diesem Zeitpunkt auch gar nicht interessiert: Wir sind nicht allein. Es gibt noch mehr Menschen, die es nicht geschafft haben. Sie stehen hinter Hügeln, Dünen und dem hochgewachsenen Schilf, von wo aus sie ebenfalls dem Schiff nachschauen. Wir Zurückgebliebenen sind oft unsichtbar.

Aber nun genug der negativen Gedanken! Am Ende dieses Briefes will ich noch einmal in aller Deutlichkeit sagen: Wir würden uns sehr, sehr freuen, dich endlich in die Arme zu schließen! Wir denken fast jeden Tag an dich und die Vorstellung an ein Leben ohne dich, bringt uns fast um den Verstand. Womöglich denkst du ja auch an uns und hast Lust bekommen, uns kennen zulernen. Und vielleicht befreist du uns ja bald von dem traurigen Warten.

Ich liebe dich jedenfalls schon jetzt.
Egal, wie du dich entscheidest.

Deine Mama