Die Revolution der Buchstaben

Wenn ich morgens aufwache, lege ich mein Superhelden-Cape um und fliege eine erste Runde über Sankt Augustin. Das mache ich am liebsten im Schlafanzug, denn diese hautengen Superhelden-Anzüge zwicken an jeder Stelle. Darin schwitzt du wie ein Ferkel beim Schlachter und kaschieren kannst du da auch nichts. Jedes Stück Schokolade, das du heimlich genascht hast, formt sich gleich zu einem Rettungsring um den Bauch.

Gut. Ist gar nicht so weit voneinander entfernt: Superhelden und Rettungsringe. Vielleicht würden sie mit der Zeit über mich sagen: »Das ist doch die, bei der du dich in der Not immer am Rettungsring festhalten kannst, sehr praktisch!« Doch meiner Erfahrung nach haben die Schurken und Bösewichte nicht den nötigen Respekt vor jemanden, der aussieht wie Wampen-Girl. Deswegen trage ich meinen Schlafanzug. Er ist wie eine gemütliche zweite Haut, die mich sicher einhüllt und alles Schlechte von mir abhält. So sehe ich mehr aus, wie ich mich fühle – und das schüchtert die Fieslinge ein.

 

Meine Morgentour beginne ich mit ein paar Flugübungen über Mülldorf: den stürmenden Sieger, das Superhelden-Klappmesser und die Formation A-new-star-is-Born. Das ist besser als jedes Gläschen Sekt, denn anschließend pumpt das Blut durch meine Adern und mein Herz schlägt einen kräftigen Takt. Ein eindeutiges Startzeichen, um loszulegen. Lange Zeit wusste ich nur nicht genau, womit. Nicht dass wir uns falsch verstehen, ich hatte ein klares Ziel: Ich wollte die Welt besser machen. Ich wusste nur nicht, wie. An welcher Tür musste ich klingeln, um mit den Hungersnöten einmal ein ernsthaftes Wörtchen zu reden? Was gab ich ins Navi ein, wenn ich zum Klimawandel wollte, um ihn aufzuhalten?

Ehrlich gesagt: Ich hatte es mir einfacher vorgestellt, ein Superheld zu sein. Mehr Jungfrauen in Nöten und mehr anerkennender Jubel, wenn ich meine Kreise zog. Wochenlang suchte ich nach geeigneten Bösewichten, die ich in die Schranken weisen konnte. Doch es bahnte sich einfach kein Endzeitkampf an. Stattdessen positionierte ich ein paar bissfreudige Marder unter den Autos von Leuten, die mit fünfzig durch die Dreißigerzone geheizt waren. Ich steckte übellaunigen Straßenbahnfahrern heimlich eine Dose Kichererbsen in die Tasche und warf die ein oder andere Samenbomben in die Gärten meiner Nachbarn – wegen des Bienensterbens und so. Doch so richtig hatte ich nicht den Eindruck, die Welt besser zu machen. Ich war kurz davor, mein Cape an den Nagel zu hängen.

Bis ich eines Morgens ein A vom Himmel aus sah. Ja. Ein A. Gleich neben der Sieg auf einer Bank saß der stattliche Buchstabe, der Wörter anführt wie Altweibersommer, Aktenordner oder Alleinunterhalter. Der maßgebliche Vokal in Abrakadabra, der liebevolle Abschluss von Oma. Ich gestehe es euch gleich: Ich bin ein Fan vom A. Wörter wie Komma, Maus, selbst die Pasta wären wesensverändert ohne diesen wundervollen Buchstaben. Er kommt so aalglatt und abweisend spitz daher, doch spricht man ihn aus, vibriert die Bauchdecke, kann sich der Kiefer einmal kräftig strecken und auseinanderklappen. Sicherlich, es ist der Laut, den wir rufen, wenn wir uns verletzen. Er klingt jedoch ebenfalls beim Lachen mit und jedes Kleinkind beherrscht ihn als Erstes.

Ich hätte meine Runde auch für jeden anderen Buchstaben unterbrochen. Doch den Ersten seiner Art zu treffen, ließ Freude in mir aufschäumen, als hätte ich eine ganze Packung Ahoibrause geschluckt. Ich setzte zum Sturzflug an und donnerte neben das A auf die Wiese. Dort rappelte ich mich auf, schaute zur Bank. Es saß da und baumelte mit den Enden der nach unten auseinanderlaufenden Linien. Oder besser Balken? War ja dreidimensional. Ich sag euch, wenn du ein A in freier Wildbahn triffst, nimmst du es mit der Geometrie nicht mehr so genau. Nennen wir seine Gliedmaßen deswegen der Einfachheit halber »Linienbalken«. Es baumelte also mit seinen Linienbalken und schaute auf den Boden.

»HAllo, ich bin KArin. Alles KlAr?«, fragte ich und konnte nicht anders, als jedes A überdeutlich zu betonen. Das A schaute mich an. Es hatte zwei schwarz-weiße Comic-Augen ein paar Zentimeter unter der Stelle, an der die Linienbalken zu einer Spitze zusammenliefen.

»Was willst du hier?«, fragte es grimmig. »Du störst mich. Ich plane gerade die Revolution!« Es richtete seinen Blick wieder zu Boden.

»WAAAs?«

»Ich will die Buchstaben aller Wörter vereinigen. Ich will sie auf die Barrikaden führen. Wir werden für mehr Fantasie und Wortwitz in der deutschen Sprache kämpfen. Die Schönheit unseres Klangs wieder in Erinnerung rufen!«

»JAAA!«, rief ich und hob die Faust in die Luft. Eine Revolution, genau das Richtige für Superhelden.

»Mit u   ns kann die Menschheit Brücken bauen, von Herz zu Herz sprechen«, fuhr das A fort. »Aber stattdessen werden wir in Parteiprogrammklauseln unterdrückt, in Notarschriebsen vergewaltigt und in AGB-Abschnitten – die nie ein Mensch je eines Blickes würdigt – finden ganze fiese Wortgemetzel statt. Das ist Vokabelmord der ganz schlimmen Sorte! Und ich akzeptiere das nicht mehr!«

»NA Aber!«, ich tätschelte dem A über einen Linienbalken. Besser es wurde nicht wütend. Wenn es nämlich buchstäblich ab durch die Decke ging, dürfte es dank seiner ergometrischen Form in einem Affenzahn in den Himmel schießen. Dann wäre die Revolution der Buchstaben so schnell vorbei, wie sie begonnen hatte.

»Regelmäßig müssen wir für schlechte politische Schlagbegriffe herhalten wie Lügenpresse und Klüngelkapitalismus. Ich stelle mich dafür ausdrücklich nicht mehr zur Verfügung! Sollen die nur mal versuchen, Establishment ohne meine Kooperation auszusprechen. Wird mächtig betrunken klingen.«

»Das ist ja nachvollziehbar. Aber wie willst du das anstellen?«, hakte ich nach.

»Weiß noch nicht«, brummte es. »Vielleicht streike ich einfach. Ich verweigere meine Mithilfe in jedem Text, bei jedem ausgesprochenen Wort.«

»Des wer eber schede!«, polterte es us meinen Mund. Ich soh es entsetzt on. »Wie mochst du des?«

Es kicherte, zuckte mit den Linienbelken und storrte nochdenklich in die Ferne.

»Du bist feige!«, rief ich, doch es erwiderte nichts. »Du konnst nicht einfoch obhowen! Wos würde us der Welt werden, wenn uns der erste Buchstoben fehlte? « Es blieb stumm.

»Komm schon!«, flehte ich es on. »Wos soll ich tun?«

»Schwöre! «, forderte es.

»Wos?«

»Schwöre, du hilfst uns! «

Ich hob zwei Finger in die Luft. »Ich schwöre!«

Und plötzlich blitzdurchflammte es mich. Ich spürte ein Kribbeln im Magen, als hätte ich zu viel Buchstabensuppe gefuttert, Hitze stieg in mir auf und der Schweiß drang aus allen Poren. Ein Gedanke breitet sich in mir aus. Erst war er nur eine kleine Idee, die wie eine Federwolke durch meinen Kopf schwebte. Doch Sekunde um Sekunde wuchs er an und war nur wenige Augenblicke später eine ausgewachsene Wahrheit:

»Ich schwöre hiermit ein Buchstabenmensch zu werden. Von heute an bin ich ein Sprachbildner, ein Wortfuchser, ein Schriftverfasser. Ich werde mich für die Rechte alles Niedergeschriebenen einsetzen, mit Worten klingeln und Buchstaben jonglieren, sprachgewaltige Bilder zeichnen und Fantasiewelten erschaffen. Ich spreche mich gegen ungerechtfertigte Substantivierungen aus und gebe dem Genitiv eine Chance. Die Schönheit des Wortes wird von mir ab sofort in alle Teile der Welt getragen werden. Jeden Wortes. In jeder Sprache.« Ich drehte mich zum A, wollte den Stolz in seinen Augen sehen, mit ihm die Revolution planen. Doch es war bereits verschwunden.

Wenn ich morgens aufwache, lege ich mein Superhelden-Cape um und fliege eine erste Runde über Sankt Augustin. Erwischt mich ein Geistesblitz, segle ich sofort nach Hause und lass meine Hände über das Keyboard fliegen. Dann schreib ich Geschichten mit einer Extraportion Fantasie. Sie sollen Lust aufs Lesen machen und aufs Schreiben. Ich bin Anführer einer Schreibrevolution und frage euch nun: Wollt ihr mir folgen?