Versumpft

Alles begann an dem Tag, als mein Rückgrat brach. Lange Zeit hatte es geknarzt und geächzt, aber schließlich machte es ernst und verabschiedete sich mit einem ohrenbetäubenden Paukenschlag. Zu oft hatte ich genickt, obwohl ich Nein sagen wollte; hatte weggeschaut, wenn ein anderer fertiggemacht wurde; hatte gelächelt, wenngleich mir nach Schreien war. Ich hatte alles mitgetragen, obwohl ich wusste, dass es falsch war. Zum Teufel, jetzt bekam ich die Rechnung dafür.

Dabei hatte ich es mir nie leicht gemacht und bis zum Schluss gehofft, die Situation zu ändern. Die Zuversicht starb in dem Moment, als meine Wirbelknochen dem Druck nicht mehr standhielten und unter seiner Last zusammenbrachen.

Das Krachen war mehr als ein Weckruf, es war das Signal für die Revolution. Ich musste den Tyrannen stürzen, das »Wir-machen-das-so-wie-ich-das-sage«-Gebot niederbrennen. Deswegen griff ich zur Fackel, hielt flammende Reden, scharrte die Jünger um mich und in der Stunde der Wahrheit war ich – allein. Keiner traute sich an meiner Seite, Dem-dessen-Namen-nicht-genannt-werden-soll die Stirn zu bieten. So verabschiedete sich auch meine eigene Courage, denn sie wollte nicht den Kopf hinhalten. Am Ende blieb mir nichts andres übrig, als das Unvorstellbare zu tun: Ich kündigte.

Einem Drogenrausch glich das wohlige Gefühl dieses Triumphes. Meine Handfesseln sprangen auf und ich war dermaßen erleichtert, dass ich wie ein Luftballon davon schwebte.

Die Welt wurde immer kleiner, bis sie so winzig war, ich hätte sie verschlingen können, und mit ihr alle Probleme, die ich jemals gekannt hatte. In dem Moment als ich die Wolkendecke durchstieß, streifte ich jeden leidvollen Gedanken ab. Das weiße, weite Feld, das nun vor mir lag, befreite mich von allen Ängsten. Es weckte meine kindlichen Sehnsüchte, denen ich sofort folgte:

Rad, Flickflack, Salto, alles gelang mir, ganz ohne Rückgrat.

Ich drehte mich so lange um meine eigene Achse, bis ich das Oben vom Unten nicht mehr unterscheiden konnte. Dabei spürte ich allein den Wind auf meiner Haut und das weiche Wolkenbett unter meinen Füßen. Nach einer Weile ging mir die Puste aus und ich deckte mich mit Himmelwatte zu. Herrgott, fühlt sich das gut an, war der letzte Gedanke, bevor ich einschlummerte und eine halbe Ewigkeit schlief.

Als ich aufwachte, verwandelte sich die Wolke unter mir in tausendundeinen Regentropfen. Der feuchte Watteboden gab nach. Ich stürzte zur Erde zurück und mit jedem Meter, den ich an Höhe verlor, wuchs ihre Größe wieder an. Wenige Sekunden später landete ich im Matsch. Drei Atemzüge lang brauchte ich, um meine eigenen Gedanken wieder zu verstehen. Dann testete ich, ob alle Gliedmaßen funktionierten: Meine Hände und Knie brannten, denn sie hatten versucht, den Fall abzubremsen. Mein Kopf hatte einen dürftigen Airbag abgegeben, sodass mir bald ein Horn auf der Stirn wachsen würde. Ansonsten hatte ich den Sturz gut überstanden. Natürlich fehlte mir noch das Rückgrat, was mir das Aufstehen erschwerte. Dennoch hievte ich mich hoch und schaute mich um. Die Nacht hatte die Landschaft in kalte Dunkelheit getaucht. Vor mir lagen Wasserflächen, aus denen Gestrüpp wie Krallen ragte, rechts und links davon waren Inseln mit borstigen Pflanzenbüscheln drapiert und ein paar Schritte entfernt empfingen mich zwielichtige Hügel.

Der Boden schmatzte bei jeder Bewegung. Und schon rutschte mir der rechte Fuß weg, der linke glitt in die entgegengesetzte Richtung, sodass ich unfreiwillig einen misslungenen Spagat machte. Mit beiden Armen schlug ich um mich und kippte den Oberkörper in alle Himmelsrichtungen. Doch umso länger ich nach dem Gleichgewicht suchte, desto mehr sank ich ein. Kalter Matsch umarmte meine Knöchel. Verdammt, steckte ich tief im Morast!

Sumpf

Ich verwarf die Idee, hier aufrecht raus zu kommen …

… und tastete mich vorsichtig auf allen vieren voran. Mitten auf dem Hügel rutschten mir nun die Hände weg und mit vollem Karacho schlitterte ich kopfüber in ein schwarzes Wasserloch. Eiseskälte umschloss mich und ich sank, als würde mich jemand nach unten ziehen. Im ersten Moment gab ich mich dem hin, wollte nur fallen und schauen, was passiert. Doch ein sehnsüchtiges Verlangen nach Luft überfiel mich. Ohne auf Anweisungen vom Gehirn zu warten, paddelten meine Arme und ruderten meine Beine, bis mein Kopf über Wasser war und einige befreiende Atemzüge machte.

Zwar hing ich noch bis zu den Schultern in der Brühe, sank aber nicht mehr tiefer. Ich griff ich nach dem Grünzeug am Rand, doch das löste sich sofort. Dann wühlte ich meine Hände in die Erde, aber alles war wie puddingartiger Schleim und glitschte mir durch die Finger. Keine Chance, hier konnte ich mich nicht hochziehen.

Sollte denn niemand bemerkt haben, wie ich vom Himmel gestürzt war?, fragte ich mich und lauschte in die Nacht. Die Geräusche der Einöde waren unheimlich: das Knacken im Dickicht, als würde dort jemand herumschleichen; das Summen der Stechmücken, die auf eine Mahlzeit hofften; das Klappern meiner Zähne, in deren Takt meine Muskeln krampften. Inzwischen hatte das Dreckwasser meine Klamotten komplett durchdrungen und war in jede Ritze meines Körpers gekrochen. Eine kalte Brise streichelte mir den Nacken und ich kauerte in meinem Loch, während sich die Welt ganz zart weiter drehte.

Verdammte gähnende Einsamkeit! Was hatte ich sie mir ersehnt, als zu jeder Minute meines Alltags To-dos, Perspektiven und Zwinker-Smileys auf mich einprasselten. Doch jetzt war das Leben so unerbittlich schweigsam zu mir, ich hatte den Verdacht, es war mir böse. War ich einst gewohnt, zwanzig Bälle in der Luft zu halten, hatte ich hier nur noch zwei Aufgaben: das Frieren und das Warten. Das konnte ich einigermaßen gut. Ich meine, ich hätte besser sein können, mich dem Ganzen mehr hingeben.

Ich hätte es nicht laut ausgesprochen, aber ich sehnte mich nach meinem heimischen Hamsterrad. Es war sicher dort und jeder Schritt unkompliziert vorprogrammiert.

Da hörte ich den Ruf eines Tieres. Ich hatte keine Ahnung, wer solche Laute von sich gab, aber es klang düster und kam näher auf mich zu.

»Zeig dich!«, rief ich und es verstummte. Einige Zeit später rief es erneut und schließlich setzte sich der Störenfried an den Rand meines Wasserloches: Ein warziges Froschwesen mit orange-roten Bauch saß vor mir und blähte die Backen auf.

»Nur ´ne aufgeblasene Kröte«, seufzte ich – fast schon enttäuscht, dass es nichts Gefährlicheres war.

„Torfkopf!“, beschimpfte mich das Tier.

»Torfkopf«, beschimpfte mich das Tier. »Mein Schädel ist viel zu flach und meine Augen stehen eng zusammen. Selbst du solltest erkennen, dass ich eine Unke bin. Eine Rotbauchunke, wenn du’s genau wissen willst.«

»Da pocht aber jemand mächtig auf seinen Titel«, knurrte ich, wütend darüber, selbst in dieser Pampa noch von aufgeblasenen Wichtigtuern verbessert zu werden.

»Und?«, fragte sie, meine Äußerung überspielend. »Warum hängst du hier ab?«

»Echt jetzt? Wonach sieht es denn aus? Ich genieße mein Schlammbad im Whirlpool. Es ist nur verdammt ärgerlich, dass ich für die Blubberbläschen ständig furzen muss!«

»Aha«, bemerkte die Unke trocken. »Jeder ist ja seines eigenen Glückes Schmied. Und wenn dir das hier so gefällt, dann mal Daumen hoch!«

»Was verstehst du denn schon davon? Ich will mein Rückgrat wieder und mein Weg hat mich hier hingeführt.«

»Ich sag ja nur: Diese Faulenzerei könnte ich mir nicht leisten«, antwortete die Unke. »Einen Tag keine Mücken geknabbert und schon ist das ganze Ökosystem aus dem Gleichgewicht!« Zum Beweis schnellte ihre Zunge aus dem Mund und erhaschte einen schwirrenden Blutsauger.

»Klar hätte ich alles ertragen können, um weiterhin der Norm zu entsprechen, aber es gibt Momente, da muss man auch mal Seitenwege nehmen, die nicht so prominent aussehen.«

Die Unke gab ein schrilles Geräusch von sich, sollte wohl ein Lachen sein. »Toller Weg, den du dir da ausgesucht hast, der ist ja nicht mal beleuchtet«, prustete sie und schlug sich mit ihren schleimigen Ärmchen auf die Schenkelchen.

Ich öffnete den Mund, um ihr gehörig die Meinung zu geigen, da schoss ein großer weißer Vogel vom Himmel herab. Sein roter Schnabel schnappte nach der Unke, verschlang ihren Körper, sodass nur noch ihre langen Beine zu sehen waren. Mit seiner Beute im Rachen flog der Storch davon. Und ich war wieder allein.

»Opfer«, murmelte ich und kicherte. Vielleicht stand der große Schicksalsgott ja doch auf meiner Seite. In jedem Fall war ich jetzt überzeugt, dass es an der Zeit war, zu gehen, bevor mich die nächste Nervensäge zuquallte.

Also feuerte ich meine Kraftreserven an und vergrub die Hände so tief in die Erde, mein halber Unterarm verschwand darin. Das gab mir genug Halt, um mich an der Wand meines Wassergefängnisses hochzuziehen, bis ich komplett auf dem Schlammhügel lag. Nun robbte ich los, schob mich Meter um Meter über die unsichere Landschaft. Kein weiteres Mal würde ich in eine Falle tappen. Tatsächlich erreichte ich nach einiger Zeit das Festland – unbeschadet und schneller als gedacht.

Am Ziel angekommen, drehte ich mich auf den Rücken, um einen Moment zu verschnaufen. Dabei spürte ich etwas Wundervolles: Die Wirbel meines Rückgrats waren nachgewachsen! Überglücklich schaute ich in den Nachthimmel, wo die Sterne mir stummen Applaus gaben.

»Machen wir uns ans Werk!», beschloss ich und stand auf. Ein letztes Mal betrachtete ich die düstere Landschaft. Vielleicht war mein Gefängnis gleichzeitig mein Befreier gewesen, schoss es mir durch den Kopf. Egal. Ich drehte mich um und lief los. Endlich war ich bereit, meinen eigenen Weg zu gehen.