Unglaublich, aber wahr: Ich bin noch nicht geimpft. Viel schlimmer noch: Ich habe keinen Impftermin, keinen prominenten Platz auf einer Warteliste und kann auch kein Schreiben vorzeigen, das meine Wichtigkeit attestiert. „Weil ich so jung und so gesund bin“, erkläre ich mich, wenn jemand nachfragt. Ich sage es, so beiläufig wie ich eben kann, aber ich glaube es schon lange nicht mehr. Nein, im Gegenteil. Ich habe das Gefühl, der Impfzug fährt gerade ab – und jede Person, die ich kenne, hat ein Ticket bekommen. Nur ich warte stehe am leeren Bahnsteig und winke den anderen hinterher.
Noch vor einem Vierteljahr schien mir alles ganz logisch: Erst die Alten, dann die Kranken, dann diejenigen, die sich für ihre Arbeit schützen müssen. Das Konzept war schlüssig und ich war gerne jemand, der wartete – denn nur so konnte es funktionieren. Es war ein sinnstiftender Akt, mein Beitrag für die Gesellschaft. Wenngleich es mir eine Menge abverlangte, dieses Abwarten und Nichtstun.
Inzwischen sind 20 Prozent in Deutschland komplett geimpft – das entspricht in etwa jedem Vierten. Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass inzwischen jeder, der noch nicht geimpft ist, ein großes Looser-Zeichen auf der Stirn trägt. So als haben wir Ungeimpften uns einfach noch nicht intensiv genug mit den Regeln beschäftigt, als kennen wir nicht die richtigen Leute oder wären zu scheu, uns irgendwo reinzuschwatzen. Die Frage nach den Impfungen ist inzwischen zu einer Charakterfrage geworden: Wenn du es willst, hol es dir auch. Zurückhaltung scheint Schwäche. Wer zögert und den anderen, den Vortritt lässt, muss halt sehen, was übrig bleibt.
Doch was ist denn die Alternative zum Zögern? Den Hausärzten auflauern und sie mit Blumen und Konfekt umgarnen? Meinen Arbeitgeber überzeugen, dass ich systemrelevant bin? Mich solange durch den Kühlschrank futtern, bis ich eine Herzschwäche vorweisen kann? Und während ich darüber nachgrübele, stelle ich fest, dass ich eigentlich gerade meine Weichen justieren. Es geht nicht in erster Linie um die Impfung, sondern vielmehr darum, wer ich sein will. Denn es bleibt meine Entscheidung, mich zurückzuhalten. Meine Entscheidung, anderen den Vortritt zu lassen. Ich ziehe ein Taschentuch aus meiner Handtasche und tupfe mir das Wort Looser von der Stirn. Dann schaue ich auf die Uhr und gehe den Bahnsteig noch etwas auf- und ab. Es dauert sicherlich nicht mehr lange, bis auch ich mein Ticket für den Impfzug löse.